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ÖPNV 06/2022 für Menschen mit Behinderung

ÖPNV 06/2022 für Menschen mit Behinderung

Nach einem Monat 9-Euro-Ticket zog die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) eine erste Bilanz und offenbart eklatante Schwachstellen vor allem beim Verkehrsmittel Eisenbahn. Die Bahn ist für behinderte Menschen lediglich mit viel organisatorischem Geschick, einer hohen Frustrationsgrenze und persönlicher Selbstbeschneidung durch fehlende Barrierefreiheit, kaputte WCs und andauernd defekte Aufzüge nutzbar. Die im Behindertengleichstellungsgesetz geforderte Barrierefreiheit, also die Nutzung von Verkehrsmitteln ohne fremde Hilfe, ohne Bitte und Danke sagen, ohne Liebfragen von Personal und Mitreisenden, fehlt allerorten. Selbst wenn ein behinderter Mensch den Bahnhof barrierefrei erreicht hat, gibt es fast überall Stufen und Spalten zwischen Zug und Plattform, auch im Nahverkehr. Die Bahnsteigkanten sind meistens entweder 20 cm tiefer oder höher als die von den Bundesländern auf Jahrzehnte im Voraus bestellten Züge. Ohne fremde Hilfe hinein- oder wieder herauszukommen, ist unmöglich bis lebensgefährlich sowie im höchsten Maße diskriminierend. Um sich einen Platz mit Rollstuhl, Rollator oder Gehilfe zu sichern, müsse man sich vorher bei der sogenannten Mobilitätsservicezentrale der DB AG (MSZ) anmelden, damit das Zugpersonal der verschiedenen Bahngesellschaften in den unüberschaubaren Menschenmengen zu wissen habe, wo und wann eine Rampe anzulegen oder auszuklappen sei. Infolge steigender Nachfragen kann eine Anmeldung und Bestätigung für eine einfache Fahrt bis zu einer Woche dauern. Vor Ort am Bahnsteig hilflose Mitarbeitende, die sonst gerne nach besten Kräften behilflich wären, dies aber angesichts des zu großen Fahrgastaufkommens nicht mehr tun können. Die wenigen Rollstuhl-Stellplätze, die sich in den immer enger werdenden Mehrzweckabteilen mit Kinderwägen und Fahrrädern zu teilen sind, machten es zudem häufig schlichtweg unmöglich, einen Platz zu ergattern. Zugestellte Leitstreifen, die bis zur Zug-Tür führen sollten, sind für seheinschränkte und blinde Menschen jetzt noch schwerer zu finden. Festgestellt wurde auch eine sinkende Solidarität der Fahrgäste untereinander, wenn sie plötzlich Gefahr laufen nicht von A nach B zu kommen. So werden Fahrgastgruppen durch das strukturelle Versagen des öffentlichen Verkehrssystems gegenseitig ausgespielt. Dabei muss sich ein Verkehrsmittel nach den Menschen richten, nicht umgekehrt. Für das ISL ist es nicht hinnehmbar, dass behinderte und ältere Menschen infolge übervoller Züge gezwungen werden, auf ihre ganz privaten, persönlichen und gesundheitlichen Kosten alle Termine für Job, Praxis, Therapie, Familie und Freizeit für die nächsten Monate abzusagen. Letztlich braucht es eine Antwort auf die Frage: Wann können Menschen mit Behinderungen in diesem Land endlich Zugfahren wie alle anderen auch – zu jeder Zeit an jedem Ort?